Sonntag, 27. September 2015

The Shard. Oder: Warum Zombies seltsam laufen

11.08.2015 Teil 2


Ich mache jetzt mal etwas, das man als Autor eigentlich niemals tun sollte. Ich löse sofort das Rätsel der Kapitelüberschrift auf. Muss ich, denn sonst macht der ganze andere Krempel hier keinen Sinn.  
Warum laufen Zombies so seltsam? 
Warum schlurfen sie als ob jemand ihnen eine Eisenkugel ans Bein gebunden hätte? 
Die Antwort ist so banal, dass ich zuerst selbst nicht darauf gekommen wäre: Denen tun schlicht und ergreifend die Füße weh! Die haben keinen BMW in den sie sich mal eben setzen können, wenn der kleine Hunger nach menschlichem Gehirn wieder mal zu groß wird. Die nimmt auch kein Taxifahrer mit und da sie in der Regel die Monatskarte nicht mehr bezahlen können, dürfen sie auch nicht mehr mit der U-Bahn fahren. Und somit müssen die armen Zombies jeden Tag unzählige Kilometer zu Fuß hinter sich bringen, immerwährend auf der Suche nach dem nächsten Leckerbissen. 
Das muss einfach so sein, denn genau so geht es mir gerade. 

Nachdem ich seit fünf Stunden ununterbrochen durch London gewandert bin, habe ich das Gefühl nur noch auf den Stumpen meiner Unterschenkel zu latschen. Die ursprünglich so bequemen Sneaker stellen sich als komplette Fehlinvestition heraus und mein Rucksack verwandelt sich mehr und mehr in einen 100 Kilo Mann, der sich von mir fröhlich Huckepack tragen lässt. Aber mein Durst nach dem Leben in Londons Straßen treibt mich weiter und weiter. Ich kann nicht stehen bleiben. Ich muss weiter ziehen, immer mehr entdecken, immer Neues aufsaugen. 

Braaaaaaaiiiins!

Dummerweise hat die Straße in der ich jetzt gelandet bin eher etwas von einem Friedhof. Kein Mensch weit und breit. Eigentlich sollte ich inzwischen wieder an der Themse stehen, und eigentlich sollte es hier kleine Cafés und Shops geben? 
Ein Blick auf die Karte verrät mir, dass ich schon wieder denselben Fehler gemacht habe. Als ich den Stadtplan um 180° drehe erkenne ich, dass mein richtiges Ziel in der entgegengesetzten Richtung liegt. 
Mir reicht es. 
Ich werfe alle meine ursprünglichen Pläne über Bord und beschließe erst einmal zurück ins Hotel zu fahren. Wenn ich meinen jetzigen Pfad beibehalte, sollte ich auf jeden Fall an einer U-Bahn Station raus kommen. Das ist dann schon mal die halbe Miete. 
So schlurfe ich weiter, mit glasigem Blick und dem Gefühl, dass ich jeden Moment im Gehen einschlafe. 
Zieh dich cool an, komm nicht wie so ein Tourist daher, versuch dich in die Menge zu integrieren, gaukle den Leuten vor, dass du Londonerin bist. Das ist cool! Genau das willst du. 
Ja das hatte ich mir vorgenommen als ich das Hotel verlassen habe. Das Vorhaben ist bereits nach wenigen Sekunden kläglich daran gescheitert, dass ich mir einen Rucksack aufgeschnallt habe. Ich dachte ich hätte diesen Fauxpas noch mit hippen Klamotten gut machen können, aber die bringen leider auch nichts, wenn sich die Trägerin eine fünfzig Kilo schwere Spiegelreflexkamera um den Hals hängt und vollkommen irritiert in einen Faltplan starrt. 
Als Sahnehäubchen hat die obligatorische Regenjacke nicht mehr in den Rucksack gepasst und umklammert jetzt plakativ meine Hüfte. 
Alleine die Tatsache, dass ich meinen Ausweis nicht in einem mit Klettverschluss gesichertem Brustbeutel um den Hals trage, rettet mich wahrscheinlich gerade davor nicht sofort ausgeraubt zu werden. 
Immerhin scheint die Gegend hier halbwegs sicher zu sein. Die Fahrräder, die überall an die Zäune gekettet sind, sind jedenfalls alle noch vollständig. Da kenne ich aus Köln aber ganz andere Bilder. Skelettierte Fahrradrahmen, die sich mit letzter Lebenskraft an ein rostendes Schloss krallen, sieht man hier seltener. 
Übrigens gibt es in London eine sehr interessante Eigenart sein Fahrrad zu sichern. Da es verboten ist sein Zweirad an Verkehrsschilder oder Lampen zu ketten, weicht man auf die zahlreichen Zäune bzw. Gitter aus, die sich um viele der großen Häuser winden. Allerdings lehnt man sein Bike in London nicht einfach ans Gitter an, sondern man hievt es nach oben und klemmt es dort in luftiger Höhe fest. 
Warum das so ist? Ich habe keine Ahnung. 
Vielleicht dürfen Räder nicht auf dem Gehweg abgestellt werden, aber wenn sie in der Luft hängen, gibt es keine Rechtsgrundlage mehr für eine Verkehrswidrigkeit? 
Oder man schützt sich so vor Hunden, die gerne am frisch geflickten Fahrradschlauch ihr Beinchen heben? 
Oder man macht es potentiellen Dieben schwerer, denn die müssen erst einmal ordentlich Gewichte stemmen um das Fahrrad wieder vom Zaun heben zu können. 
Vielleicht ist es sogar umgekehrt, und das würde ich den höflichen Engländern sogar noch eher zutrauen: So hat der potentielle Dieb das Fahrradschloss direkt in Augenhöhe und muss sich zum Knacken nicht erst noch herunter beugen. 
Man erkennt, ich habe absolut keine Ahnung. Wer es also weiß, der möge mich bitte aufklären. 

Fahrradständer 

Ich schlurfe also weiter vor mich hin und merke, dass es um mich herum auf einmal wieder lebendiger wird. In Anzug und Kostümchen gekleidete Business Leute stolzieren kreuz und quer über die Straße. Als ich nach oben schaue um mich zu orientieren werde ich von einer frisch geputzten Glasfassade geblendet. Mein Blick folgt der Glaswand, die einfach nicht enden will, selbst als ich meinen Kopf in den Nacken lege. 
Meine Güte muss ich müde sein, dass mir dieser Koloss jetzt erst auffällt. 
Im Schatten des spitzen Turmes komme ich mir vor wie eine Ameise, die gerade vor einer Giraffe steht. Ja, so darf man sich auch fühlen, wenn sich vor einem das aktuell höchste Gebäude der EU aufbaut. 
„The Shard“ steht in schlanken Buchstaben über einem Seiteneingang. Wieder so eine Sache, über die ich mich vorher überhaupt nicht informiert habe und die mich jetzt so überrascht wie eine Blondine, die aus einer Torte springt. 
Ich will gerade weiter gehen, da lese ich etwas von „Aussichtsplattform“. 
Moment mal! 
Wäre ich ein Hund, meine Ohren würden sich aufmerksam aufstellen. London von ganz, ganz oben sehen, das wäre doch mal was! 
Da Spontanität mein zweiter Vorname ist laufe ich sofort zum Seiteneingang, der mit der besten Aussicht Londons wirbt. Kleine LED Lauflichter ziehen mich hinter sich her und so erklimme ich die ersten Treppenstufen zu einem Höhenrausch der Extraklasse.

Dummerweise endet dieser Rausch bereits nach dreißig Stufen in Form eines Portiers, der mich von oben bis unten mustert. 
„Good afternoon Lady. Are you alone?“ („Guten Tag, sind Sie alleine?“) 
Ich drehe mich natürlich erst einmal verwirrt um und schaue ob jemand hinter mir gemeint ist. Aber da ist niemand. Ja, dann bin ich wohl alleine. Hätte der Schlaumeier ja eigentlich in Anbetracht des komplett leeren Ganges, selber drauf kommen können. 
Ich nicke freundlich und bin gespannt was der nette Herr zu sagen hat. Doch anstatt der sonst so höflichen, britischen Gastfreundlichkeit starrt mich pures Entsetzen an. 
Der Portier sieht aus als müsste er mir jeden Moment vor die Füße kotzen. 
Ja gut, ich bin ein Touristenzombie, dessen Augenringe sicherlich schon bis zu den Knien hängen, aber sehen hier nicht alle Touris so aus? Und eine Aussichtsplattform ist doch was für Touristen, oder? Oder vielleicht ...nicht...? 
Auf einmal wächst ein zartes Pflänzchen namens Zweifel in mir und es beginnt unkontrolliert zu wuchern als mich der Kerl erst nach einer erneuten, abschätzenden Musterung passieren lässt. „Please check the prices!“ („Bitte informieren sie sich über die Preise“),  wirft er mir abfällig entgegen. 
Vollkommen verunsichert stakse ich in die gläserne Eingangshalle. Der Check in für den Ausflug in luftige Höhe sieht aus wie an einem Flughafen. 
Hinter der Empfangstheke stehen adrett gekleidete Hostessen, die noch adretter gekleideten Gästen die Eintrittskarten in die Hand drücken. Links von mir führt ein Gang aus poliertem, schwarzem Marmor zum Fahrstuhl ins Glück. Rechts von mir steht eine winzige Preistafel auf dem Tresen. 
Ich muss mich weit vorbeugen um überhaupt sehen zu können was dort steht und auch nach dem dritten Mal lesen muss irgendwas mit meinen Augen nicht stimmen. 
Einmal hoch und wieder runter kosten 37 Pfund. Das sind knapp über 50 Euro. Ich bleibe wie angeflanscht stehen. Ich habe das Gefühl die Augen dieses arroganten Portiers kleben immer noch auf mir und wenn ich jetzt sofort umkehre, dann wird er innerlich Tango tanzen. Ganz nach dem Motto: Hab ich's dir doch gesagt, du heruntergekommener, unvermögender Dorftrampel. 

Ich studiere die Preise erneut. Irgendwas muss ich übersehen haben. So viel, nur für einmal rauf und runter? 
Womit wird der Fahrstuhl betrieben? Mit Kerosin? 
Oder haben die vielleicht sogar das Beamen erfunden? 
Im unteren Drittel der Preisliste gibt es sogar noch eine Steigerung. Kosten für einen Erwachsenen: 46 Pfund. Dafür darf man dann aber zweimal hoch und runter. Aber auch nur am selben Tag. Für die, die London einmal bei Tag und einmal bei Nacht von oben sehen wollen. Zu dumm, dass der Turm bereits um 22 Uhr schließt und es Hochsommer ist. Da ist um die Uhrzeit noch nicht viel mit „London bei Nacht“. Aber für den Preis können die Herrschaften vom „The Shard“ sicherlich auch eine Sonnenfinsternis hervorzaubern. 
Es nutzt alles nichts. Ganz ehrlich, so gerne ich London mal von oben sehen möchte, das ist es mir einfach nicht wehrt. Also atme ich tief ein, spanne meine Schultern, schlucke meinen Stolz herunter und schreite ohne ein weiteres Wort an dem Portier vorbei, zurück nach draußen. 
Aber eines Tages, da werde ich wieder kommen und dann habe ich gespart. Nur für diesen einen Tag! Dann werde ich mit Banknoten um mich werfen und über sie stolzieren, nur damit meine Schuhe nicht dreckig werden. 
Und wenn mich dieser Troll dann wieder fragt ob ich alleine bin werde ich sagen: „Nein! Denn ich habe die deutsche Nationalmannschaft zu einem kleinen Umtrunk eingeladen.“ 
Und wenn dann Podolski und Co. auf Kommando antraben, werden sie alle Fußballschuhe mit Stollen tragen und den kompletten Marmor Eingangsbereich dieser Schickimicki Bude zerkratzen. Und die Preisliste? 
Die wird von Per Mertesacker aufgegessen. 
Und wenn mich der Portier dann entsetzt fragt wer ich bin dann sage ich: „Vielleicht bin ich gar kein unvermögender Dorftrottel mit Blasen an den Füßen, sondern Manuel Neuer!“  

Ich merke wie mir schwindelig wird. Oh man, ich brauche dringend eine Portion Schlaf.

Ob mir dieser Schlaf gegönnt wird und welcher Superstar mir am Abend zum greifen nah ist, das erfahrt ihr in meinem nächsten Eintrag.


Stay Professional!


"The Shard". Sieht auf dem Bild hier gar nicht so groß aus. 


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