Sonntag, 27. September 2015

The Shard. Oder: Warum Zombies seltsam laufen

11.08.2015 Teil 2


Ich mache jetzt mal etwas, das man als Autor eigentlich niemals tun sollte. Ich löse sofort das Rätsel der Kapitelüberschrift auf. Muss ich, denn sonst macht der ganze andere Krempel hier keinen Sinn.  
Warum laufen Zombies so seltsam? 
Warum schlurfen sie als ob jemand ihnen eine Eisenkugel ans Bein gebunden hätte? 
Die Antwort ist so banal, dass ich zuerst selbst nicht darauf gekommen wäre: Denen tun schlicht und ergreifend die Füße weh! Die haben keinen BMW in den sie sich mal eben setzen können, wenn der kleine Hunger nach menschlichem Gehirn wieder mal zu groß wird. Die nimmt auch kein Taxifahrer mit und da sie in der Regel die Monatskarte nicht mehr bezahlen können, dürfen sie auch nicht mehr mit der U-Bahn fahren. Und somit müssen die armen Zombies jeden Tag unzählige Kilometer zu Fuß hinter sich bringen, immerwährend auf der Suche nach dem nächsten Leckerbissen. 
Das muss einfach so sein, denn genau so geht es mir gerade. 

Nachdem ich seit fünf Stunden ununterbrochen durch London gewandert bin, habe ich das Gefühl nur noch auf den Stumpen meiner Unterschenkel zu latschen. Die ursprünglich so bequemen Sneaker stellen sich als komplette Fehlinvestition heraus und mein Rucksack verwandelt sich mehr und mehr in einen 100 Kilo Mann, der sich von mir fröhlich Huckepack tragen lässt. Aber mein Durst nach dem Leben in Londons Straßen treibt mich weiter und weiter. Ich kann nicht stehen bleiben. Ich muss weiter ziehen, immer mehr entdecken, immer Neues aufsaugen. 

Braaaaaaaiiiins!

Dummerweise hat die Straße in der ich jetzt gelandet bin eher etwas von einem Friedhof. Kein Mensch weit und breit. Eigentlich sollte ich inzwischen wieder an der Themse stehen, und eigentlich sollte es hier kleine Cafés und Shops geben? 
Ein Blick auf die Karte verrät mir, dass ich schon wieder denselben Fehler gemacht habe. Als ich den Stadtplan um 180° drehe erkenne ich, dass mein richtiges Ziel in der entgegengesetzten Richtung liegt. 
Mir reicht es. 
Ich werfe alle meine ursprünglichen Pläne über Bord und beschließe erst einmal zurück ins Hotel zu fahren. Wenn ich meinen jetzigen Pfad beibehalte, sollte ich auf jeden Fall an einer U-Bahn Station raus kommen. Das ist dann schon mal die halbe Miete. 
So schlurfe ich weiter, mit glasigem Blick und dem Gefühl, dass ich jeden Moment im Gehen einschlafe. 
Zieh dich cool an, komm nicht wie so ein Tourist daher, versuch dich in die Menge zu integrieren, gaukle den Leuten vor, dass du Londonerin bist. Das ist cool! Genau das willst du. 
Ja das hatte ich mir vorgenommen als ich das Hotel verlassen habe. Das Vorhaben ist bereits nach wenigen Sekunden kläglich daran gescheitert, dass ich mir einen Rucksack aufgeschnallt habe. Ich dachte ich hätte diesen Fauxpas noch mit hippen Klamotten gut machen können, aber die bringen leider auch nichts, wenn sich die Trägerin eine fünfzig Kilo schwere Spiegelreflexkamera um den Hals hängt und vollkommen irritiert in einen Faltplan starrt. 
Als Sahnehäubchen hat die obligatorische Regenjacke nicht mehr in den Rucksack gepasst und umklammert jetzt plakativ meine Hüfte. 
Alleine die Tatsache, dass ich meinen Ausweis nicht in einem mit Klettverschluss gesichertem Brustbeutel um den Hals trage, rettet mich wahrscheinlich gerade davor nicht sofort ausgeraubt zu werden. 
Immerhin scheint die Gegend hier halbwegs sicher zu sein. Die Fahrräder, die überall an die Zäune gekettet sind, sind jedenfalls alle noch vollständig. Da kenne ich aus Köln aber ganz andere Bilder. Skelettierte Fahrradrahmen, die sich mit letzter Lebenskraft an ein rostendes Schloss krallen, sieht man hier seltener. 
Übrigens gibt es in London eine sehr interessante Eigenart sein Fahrrad zu sichern. Da es verboten ist sein Zweirad an Verkehrsschilder oder Lampen zu ketten, weicht man auf die zahlreichen Zäune bzw. Gitter aus, die sich um viele der großen Häuser winden. Allerdings lehnt man sein Bike in London nicht einfach ans Gitter an, sondern man hievt es nach oben und klemmt es dort in luftiger Höhe fest. 
Warum das so ist? Ich habe keine Ahnung. 
Vielleicht dürfen Räder nicht auf dem Gehweg abgestellt werden, aber wenn sie in der Luft hängen, gibt es keine Rechtsgrundlage mehr für eine Verkehrswidrigkeit? 
Oder man schützt sich so vor Hunden, die gerne am frisch geflickten Fahrradschlauch ihr Beinchen heben? 
Oder man macht es potentiellen Dieben schwerer, denn die müssen erst einmal ordentlich Gewichte stemmen um das Fahrrad wieder vom Zaun heben zu können. 
Vielleicht ist es sogar umgekehrt, und das würde ich den höflichen Engländern sogar noch eher zutrauen: So hat der potentielle Dieb das Fahrradschloss direkt in Augenhöhe und muss sich zum Knacken nicht erst noch herunter beugen. 
Man erkennt, ich habe absolut keine Ahnung. Wer es also weiß, der möge mich bitte aufklären. 

Fahrradständer 

Ich schlurfe also weiter vor mich hin und merke, dass es um mich herum auf einmal wieder lebendiger wird. In Anzug und Kostümchen gekleidete Business Leute stolzieren kreuz und quer über die Straße. Als ich nach oben schaue um mich zu orientieren werde ich von einer frisch geputzten Glasfassade geblendet. Mein Blick folgt der Glaswand, die einfach nicht enden will, selbst als ich meinen Kopf in den Nacken lege. 
Meine Güte muss ich müde sein, dass mir dieser Koloss jetzt erst auffällt. 
Im Schatten des spitzen Turmes komme ich mir vor wie eine Ameise, die gerade vor einer Giraffe steht. Ja, so darf man sich auch fühlen, wenn sich vor einem das aktuell höchste Gebäude der EU aufbaut. 
„The Shard“ steht in schlanken Buchstaben über einem Seiteneingang. Wieder so eine Sache, über die ich mich vorher überhaupt nicht informiert habe und die mich jetzt so überrascht wie eine Blondine, die aus einer Torte springt. 
Ich will gerade weiter gehen, da lese ich etwas von „Aussichtsplattform“. 
Moment mal! 
Wäre ich ein Hund, meine Ohren würden sich aufmerksam aufstellen. London von ganz, ganz oben sehen, das wäre doch mal was! 
Da Spontanität mein zweiter Vorname ist laufe ich sofort zum Seiteneingang, der mit der besten Aussicht Londons wirbt. Kleine LED Lauflichter ziehen mich hinter sich her und so erklimme ich die ersten Treppenstufen zu einem Höhenrausch der Extraklasse.

Dummerweise endet dieser Rausch bereits nach dreißig Stufen in Form eines Portiers, der mich von oben bis unten mustert. 
„Good afternoon Lady. Are you alone?“ („Guten Tag, sind Sie alleine?“) 
Ich drehe mich natürlich erst einmal verwirrt um und schaue ob jemand hinter mir gemeint ist. Aber da ist niemand. Ja, dann bin ich wohl alleine. Hätte der Schlaumeier ja eigentlich in Anbetracht des komplett leeren Ganges, selber drauf kommen können. 
Ich nicke freundlich und bin gespannt was der nette Herr zu sagen hat. Doch anstatt der sonst so höflichen, britischen Gastfreundlichkeit starrt mich pures Entsetzen an. 
Der Portier sieht aus als müsste er mir jeden Moment vor die Füße kotzen. 
Ja gut, ich bin ein Touristenzombie, dessen Augenringe sicherlich schon bis zu den Knien hängen, aber sehen hier nicht alle Touris so aus? Und eine Aussichtsplattform ist doch was für Touristen, oder? Oder vielleicht ...nicht...? 
Auf einmal wächst ein zartes Pflänzchen namens Zweifel in mir und es beginnt unkontrolliert zu wuchern als mich der Kerl erst nach einer erneuten, abschätzenden Musterung passieren lässt. „Please check the prices!“ („Bitte informieren sie sich über die Preise“),  wirft er mir abfällig entgegen. 
Vollkommen verunsichert stakse ich in die gläserne Eingangshalle. Der Check in für den Ausflug in luftige Höhe sieht aus wie an einem Flughafen. 
Hinter der Empfangstheke stehen adrett gekleidete Hostessen, die noch adretter gekleideten Gästen die Eintrittskarten in die Hand drücken. Links von mir führt ein Gang aus poliertem, schwarzem Marmor zum Fahrstuhl ins Glück. Rechts von mir steht eine winzige Preistafel auf dem Tresen. 
Ich muss mich weit vorbeugen um überhaupt sehen zu können was dort steht und auch nach dem dritten Mal lesen muss irgendwas mit meinen Augen nicht stimmen. 
Einmal hoch und wieder runter kosten 37 Pfund. Das sind knapp über 50 Euro. Ich bleibe wie angeflanscht stehen. Ich habe das Gefühl die Augen dieses arroganten Portiers kleben immer noch auf mir und wenn ich jetzt sofort umkehre, dann wird er innerlich Tango tanzen. Ganz nach dem Motto: Hab ich's dir doch gesagt, du heruntergekommener, unvermögender Dorftrampel. 

Ich studiere die Preise erneut. Irgendwas muss ich übersehen haben. So viel, nur für einmal rauf und runter? 
Womit wird der Fahrstuhl betrieben? Mit Kerosin? 
Oder haben die vielleicht sogar das Beamen erfunden? 
Im unteren Drittel der Preisliste gibt es sogar noch eine Steigerung. Kosten für einen Erwachsenen: 46 Pfund. Dafür darf man dann aber zweimal hoch und runter. Aber auch nur am selben Tag. Für die, die London einmal bei Tag und einmal bei Nacht von oben sehen wollen. Zu dumm, dass der Turm bereits um 22 Uhr schließt und es Hochsommer ist. Da ist um die Uhrzeit noch nicht viel mit „London bei Nacht“. Aber für den Preis können die Herrschaften vom „The Shard“ sicherlich auch eine Sonnenfinsternis hervorzaubern. 
Es nutzt alles nichts. Ganz ehrlich, so gerne ich London mal von oben sehen möchte, das ist es mir einfach nicht wehrt. Also atme ich tief ein, spanne meine Schultern, schlucke meinen Stolz herunter und schreite ohne ein weiteres Wort an dem Portier vorbei, zurück nach draußen. 
Aber eines Tages, da werde ich wieder kommen und dann habe ich gespart. Nur für diesen einen Tag! Dann werde ich mit Banknoten um mich werfen und über sie stolzieren, nur damit meine Schuhe nicht dreckig werden. 
Und wenn mich dieser Troll dann wieder fragt ob ich alleine bin werde ich sagen: „Nein! Denn ich habe die deutsche Nationalmannschaft zu einem kleinen Umtrunk eingeladen.“ 
Und wenn dann Podolski und Co. auf Kommando antraben, werden sie alle Fußballschuhe mit Stollen tragen und den kompletten Marmor Eingangsbereich dieser Schickimicki Bude zerkratzen. Und die Preisliste? 
Die wird von Per Mertesacker aufgegessen. 
Und wenn mich der Portier dann entsetzt fragt wer ich bin dann sage ich: „Vielleicht bin ich gar kein unvermögender Dorftrottel mit Blasen an den Füßen, sondern Manuel Neuer!“  

Ich merke wie mir schwindelig wird. Oh man, ich brauche dringend eine Portion Schlaf.

Ob mir dieser Schlaf gegönnt wird und welcher Superstar mir am Abend zum greifen nah ist, das erfahrt ihr in meinem nächsten Eintrag.


Stay Professional!


"The Shard". Sieht auf dem Bild hier gar nicht so groß aus. 


Sonntag, 20. September 2015

Schlaraffenland. Oder: Warum es manchmal gut ist, wenn ein Plan nicht funktioniert







11.08.2015 Teil 1
Vorbereitung ist alles! 
Das meine ich ernst. Nichts ist frustrierender als irgendwo über eine langweilige Hauptverkehrsstraße zu latschen, weil man gerade mal wieder keine Ahnung hat wo man eigentlich ist. Aus diesem Grund habe ich meinen London Aufenthalt auch akribisch geplant. Naja… bis auf den heutigen Tag. 
Am Vormittag gönne ich mir etwas Erholung und koste die Zeit im Bett so lange wie möglich aus. Die halbe Nacht bin ich trotz lähmender Müdigkeit hochgeschreckt, weil ich dachte das Hotel brennt gerade ab. Der tatsächliche Grund ist allerdings, dass auf der Kreuzung vor meinem Zimmer halbstündlich ein Rettungswagen vorbei donnert. Die britischen Sirenen klingen wie polyphone Klingeltöne auf Speed und tragen nicht unbedingt zur erholsamen Nachtruhe bei. Mein Gehirn muss sich erst einmal wieder an die Abspaltung zu unseren deutschen Trethupen gewöhnen. Bitte nicht falsch verstehen, das Hotel mag gemäß der von mir vermittelten Eindrücke wie eine Katastrophe erscheinen, aber es ist bereits das zweite Mal, dass ich hier Urlaub mache und ich würde es auch immer wieder buchen. 
Warum? Nun, es hat zwar so seine kleinen Macken, aber es ist sauber, die Matratzen verwandeln sich nicht in Hängematten sobald man darin liegt, das London Eye steht nur zwei Straßen weiter und für diese zentrale Lage ist es verdammt günstig. 
Muss man für andere Hotels in dieser Lage erst einmal sein gesamtes Hab und Gut verpfänden, kommt man hier halbwegs über die Runden ohne sich für den Rest seines Lebens zu verschulden. Ja, London ist teuer. Das will ich nicht beschönigen. Zwei Wochen all inclusive Urlaub am Mittelmeer oder vier Tage smogverseuchte Großstadt. Ihr habt die Wahl. 
Das meine Entscheidung wieder einmal auf zweites gefallen ist, zeigt aber auch, wie toll diese Stadt ist. Während des Frühstücks habe ich einen Geistesblitz. Wenn ich schon diverse Theaterbesuche in London wahrnehme, warum dann nicht auch endlich mal das Shakespeare Globe Theatre besichtigen (Leider ist dies nicht mehr das ursprüngliche Theater, aber ein originalgetreuer Nachbau.) 
Ich schnappe mir also meinen Faltplan und ziehe wieder los. 
Die U-Bahn Station liegt direkt gegenüber vom Hotel und so bin ich innerhalb kürzester Zeit an der Station „London Bridge“ angekommen. Aber wie geht es jetzt weiter? Einer der vielen Gründe warum ich mich so gut auf Reisen vorbereiten muss ist der, dass ich Stadtpläne grundsätzlich verkehrt herum halte. Und so laufe ich erst einmal in die falsche Richtung. Innerlich weiß ich meist sogar schon, dass da irgendwas nicht stimmen kann, aber mein Ego übertönt jedes Mal meine Intuition und die Leidtragenden dieses Streits sind dann meine Füße. 
Als Resultat latsche ich zwei Mal durch die Menschenmassen, die sich vor der U-Bahn Station drängen und von dort aus in alle Himmelsrichtungen verteilen. Aber auch auf der anderen Straßenseite ist dann kein Weiterkommen in Sicht. Ab hier geht es nur noch quer über die Themse, aber da will ich doch eigentlich gar nicht hin? 
Ich stopfe die Straßenkarte in meine Hosentasche und beschließe auf eigenen Faust einen Weg zu finden. Ich muss nur irgendwie ans Ufer kommen, dann müsste der Rest ein Kinderspiel sein. 
Als ich von der Brücke aus nach unten schaue entdecken meine Augen eine Oase in Mitten der Menschenmassen. Ein kleines Cafe hat in einem Innenhof jede Menge gemütliche Sofas, Hängematten und Liegestühle aufgebaut auf denen die Gäste die Sonne genießen. Kaum einer, der in der hektischen Masse auf der Brücke gefangen ist nimmt diese versteckte Idylle wahr. Meine Neugierde ist geweckt. Ich laufe noch ein Stück an der Brücke entlang und finde eine winzige Steintreppe, die zu dem Cafe führt. Auch hier knubbeln sich noch die Menschen, aber je weiter man hinunter geht, desto ruhiger wird es. Der Lärm der Autos verblasst auf einmal und wie Alice im Wunderland, steige ich ab in eine vollkommen andere Welt. Erst als ich unten angekommen bin verstehe ich, dass dieses Cafe erst der Anfang eines Milieus ist, das mich sofort in seinen Bann zieht. Ein freundlicher Bann, voller lachender Menschen, Musik und Gerüchen, die mich wie in Watte einbetten und durch eine weitere, schmale Gasse tragen. Links von mir sind kleine Alkoven in die Brückenwand eingebettet. In jeder Bucht befindet sich eine Imbissbude. Aber nicht der übliche Fast Food Kram. An der einen Ecke bereitet ein Mann in einer riesigen gusseisernen Pfanne, frische Paella zu. Er lacht und tanzt dabei zu brasilianischen Klängen. In der nächsten steht ein Marokkaner und brät verlockend riechende Teigtaschen. Vor den einzelnen Alkoven sitzen die Gäste. Bunt gemischt, jeder nimmt einfach irgendwo Platz. Und dieser Platz besteht nicht aus normalen Bänken, sondern aus praktisch aufeinander gestapelten Getränkekisten oder Fässern. Ich lasse mich weiter treiben und werde durch die kleine Gasse bis zu einem größeren Platz geschleust. Jetzt stehe ich genau unter der Hauptstraße. Von weitem kann man die Autos über sich dröhnen hören, aber es ist ein entferntes, unaufdringliches Geräusch. Vor mir erstrecken sich unzählige kleine Buden und Stände. Dazu verträumte Hütten, die aussehen als wären sie direkt der viktorianischen Zeit entsprungen. 
Die Weite der Unterführung entzerrt den Menschenstrom und so herrscht hier ein idyllisches Treiben rund um die Verkaufsstände. Als ich nach oben sehe verstehe ich endlich wo ich bin. 
„Borough Market“ sagt ein Schild. Natürlich! Ein Ort, der mir schon so oft empfohlen wurde und dessen Name mein löchriges Gehirn andauernd vergessen hatte. 


Aaaach! Da war doch wat gewesen!

Plötzlich steigt mir das verlockendste Aroma aller Zeiten in die Nase. Eigentlich ist es nicht nur ein Geruch, sondern eine Mischung aus unzähligen Düften, Gewürzen, Getränken und Süßspeisen, denn auf dem Borough Market gibt es ausschließlich Nahrungsmittel zu kaufen. Frisch zubereitet, verlockend präsentiert und mit kostenlosen Probierhäppchen an jeder Theke. Ich wollte zu Shakespeare, aber gelandet bin ich im Schlaraffenland. 
Es gibt Käse, Joghurt aus Biomilch, Gewürze, frischen Fisch, Muffins, Kekse, Törtchen, klassische britische Pies, Obst, frisch gepresste Säfte sowie allerlei exotische Speisen. Suppe aus Thailand, Kichererbsenbrei aus Äthiopien, Currys aus Indien, schwedische Haferkekse und ganz besonders exotisch: Die original, deftige Nürnberger Rostbratwurst. Für einen Moment bin ich tatsächlich etwas stolz, denn in der Tat gibt es eine Sache, die die Engländer überhaupt nicht hin bekommen: Eine vernünftige Grillwurst! 

Verkaufsstand: Zum exotischen Deutschen
Unter der Brücke


Ich will das haben!


Und das auch!


Und das erst recht!


Das nicht so unbedingt (mit Fleisch gefüllte Pies)


Vegetarische Spezialitäten! 

Ich kann nicht anders als jeden einzelnen Stand zu begutachten und all die unterschiedlichen Aromen zu inhalieren. Mein Magen und meine Geschmacksknospen schreien inzwischen wie ein quengelndes Kind, das sich vor der Supermarktkasse auf den Boden geworfen hat. Kauf mir das! Kauf mir das! Ich will das essen! Und das essen! Und das hier auch noch! 
Doch wie so oft: Ist die Auswahl zu groß, verliert man irgendwann den Überblick und entscheidet sich letztendlich für gar nichts. So taumle ich einfach weiter, getragen auf der Welle der Eindrücke und vergesse immer mehr die Zeit. Immer wieder finde ich kleine Gassen, die vom Geschehen abgehen und mich zu verträumten Hinterhöfen lotsen. Es ist wie eine Schatzsuche und ich möchte keinen einzigen der verborgenen Edelsteine Londons verpassen. 

Hinterhofkunst. Da wird man wenigstens nicht nass.

Es hat einen Vorteil, wenn man alleine unterwegs ist. Leider kann man das Erlebte nicht mit jemandem Teilen und sofort besprechen, aber so ist man vollkommen auf die Eindrücke fixiert, wird von nichts abgelenkt und kann sie aufsaugen wie ein durstiges Tuch. 
Erst nach einer ganzen Weile merke ich, dass nicht nur mein Geist durstig ist, sondern auch meine Kehle. Seit dem Frühstück sind bereits einige Stunden vergangen und ich habe in der ganzen Zeit noch nicht einen Schluck getrunken. Zudem muss ich die Uhr im Auge behalten, denn heute Abend steht das nächste Theaterstück an. Ich beschließe also endlich eine Pause zu machen und entscheide mich für einen kleinen Snack am äthiopischen Stand. Meine Wahl fällt auf ein vegetarisches Ensemble, farbenfroh angerichtet von der Verkäuferin. Alleine beim Anblick läuft mir bereits das Wasser im Mund zusammen. Das Essen hält was es verspricht und wenn es nicht so dämlich aussehen würde, würde ich am liebsten den Imbisskarton auslecken. 




Sieht komisch aus, war aber VERDAMMT lecker!


Meine Mahlzeit nehme ich auf einem kleinen Mauervorsprung an einem Seitenarm der Themse ein. Hinter mir parkt ein riesiges Segelschiff. Ein originaler Nachbau des Schiffs auf dem Sir Francis Drake als erster Engländer die Welt umsegelt hat. Und dann fällt mir plötzlich wieder ein warum ich überhaupt hier gelandet bin! Shakespeares Globe. 
Als ich meine Karte zücke merke ich, dass ich meinem Ziel bereits viel näher bin als gedacht. Nur ein paar hundert Meter weiter lande ich am Ufer und dort, im weißen Fachwerkstil, erstrahlt das Theater. In Mitten von modernen Gebäuden steht es hier wie ein Fels in der Brandung. Als hätte jemand ein Stück aus dem alten London geschnitten und in der heutigen Zeit wieder eingeklebt. Endlich. Voller Vorfreude steuere ich auf den Eingang zu und… laufe vor die geschlossene Tür. Hinter mir höre ich, wie ein Tourist Guide einer Gruppe von Akne geplagten Teenagern erklärt, dass das Theater nur Vormittags besichtigt werden kann. Die Teenager scheint das herzlich wenig zu interessieren. Mich schon. Der Kirchturm nebenan schlägt drei Uhr Nachmittag. Mist. 
Wie ich schon sagte, Vorbereitung ist alles. Aber andererseits, wäre ich mit ihr jemals im Schlaraffenland gelandet? Ich glaube nicht. ;-)


Stay Professional


Shakespeares Globe Theater am Ufer der Themse


Chewbaccas Stammkneipe?


Hmmmm Tapas oder London... ? Schwere Entscheidung



Pausenselfie



Mittwoch, 9. September 2015

Everyman! Oder: Nachtjoggen klingt interessanter wenn man es mit ck schreibt

10.08.2015 Teil 4
London, 17:00 Uhr, ich stehe in meinem Hotelzimmer und halte einen Fenstergriff in der Hand. Ja, ihr habt richtig gelesen. Nur den Griff, ohne dazugehöriges Fenster. Das sitzt immer noch bombenfest in seiner Verankerung. Ooops. Wie bei so vielen Hotels in London, hat auch dieses hier die Fenster regelrecht verschweißt. Vermutlich damit der gestresste Ehemann nach vier Tagen Städtetrip mit der Ehefrau, nicht den Luftweg zur Rezeption im Erdgeschoss nimmt. In der Regel haben diese Hotels dann aber auch eine Klimaanlage. Meines nicht. Dafür aber kann man das Fenster zumindest einen Spaltbreit öffnen, sofern ein entsprechender Griff daran befestigt ist. Ich pfeffere das nutzlose Ding beiseite und beschließe ohne lebensnotwendige Luftzufuhr unter die Dusche zu springen. Kurze Zeit später habe ich den Raum in eine Saunalandschaft verwandelt. Immerhin war das Hotel so nett einen Ventilator auf zu stellen.
 Und nun die Frage aller Fragen: Was zieht man in London im Theater an? Ein gut gemeinter Rat an alle, die sich jetzt ebenfalls diese Frage stellen: Macht euch keinen Kopf! Ganz ehrlich, sofern ihr nicht geladene Gäste irgendeiner Gala oder Schickimicki Premiere seid, zieht etwas an in dem ihr euch wohl fühlt. Gut, ich meine jetzt nicht den Ballonseiden Trainingsanzug, aber ehrlich gesagt, ich glaube selbst der würde gehen. Wie ich darauf komme? Nun, dazu später mehr. Ich schlüpfe also in Jeans und T-Shirt und mische mich wieder unter das Volk. Endlich muss ich keinen tonnenschweren Koffer mehr hinter mir her ziehen, endlich bin ich richtig angekommen. Mit dem Bus geht es zurück zur Waterloo Bridge, die über die Themse führt. Das National Theatre liegt zu meiner rechten Seite. Ein grauer Betonbau aus den Siebzigern, der an ein paar schlecht aufeinandergestapelte Tupperdosen erinnert. So hässlich der Bunker auch ist, er übt eine ungemeine Faszination auf mich aus. Von hier aus werden jedes Jahr Live Übertragungen in Kinos in der ganzen Welt übertragen. Ich stehe nicht das Erste Mal hier. Während andere die Aussicht auf  Big Ben und das London Eye, auf der linken Seite der Brücke genossen haben, schaute ich auf dieses Gebäude und habe mir vorgestellt wie gerade ein gebanntes Publikum im abgedunkelten Theatersaal sitzt. Den Blick auf die Bühne gerichtet, mucksmäuschenstill und auf magische Weise versetzt in eine andere Welt. Heute darf ich diese Welt endlich auch betreten. Das Stück heißt Everyman. Viele kennen es vielleicht unter dem Namen „Jedermann“, geschrieben von Hugo von Hoffmansthal. Es gibt aber noch eine wesentlich ältere, englische Fassung, die aus dem 15. Jahrhundert stammt, und ja ich gebe zu, das habe ich gegoogelt um hier und jetzt Klugscheißern zu können. Aber worum geht es in der heutigen, modernen Version dieses Stückes:  Der wohlhabende Jedermann lebt im Überfluss. Drogen und Partys sind sein Alltag, er schaut nicht nach rechts und links. Doch dann wird er vom Tod aufgesucht. Jedermann aber flieht vor ihm und macht sich auf die Suche nach Menschen, die ihm bei diesem letzten, beschwerlichen Weg beistehen. Doch mit und mit merkt er, dass niemand bereit ist ihn zu begleiten. All sein Geld nutzt ihm jetzt nichts mehr. Je näher der Tod kommt, desto bewusster wird ihm wie er bisher gelebt hat. Ihm wird vor Augen geführt wie sich sein zum Teil skrupelloses, unbedachtes Handeln auf seine Mitmenschen und die Umwelt ausgewirkt hat. Auf dieser Reise begegnet er alten Bekannten, seiner Familie und zuletzt sich selbst. Natürlich ist der Name Jedermann bewusst gewählt, denn es fordert jeden auf einmal über sich selbst nach zu denken. Ist es alles richtig was ich mache? Fühle ich mich gut dabei? Bin ich ein guter Mensch und was ist überhaupt gut? Vor dem Theater ist ein riesiger Finger aufgemalt, unter dem man sich fotografieren lassen kann. Es ist als ob Gott auf dich deutet und sagt:  „Hey du! Ja du da unten! Du bist gemeint!“
Hilfe, ich bin noch nicht einmal im Theater angekommen und fühle mich jetzt schon ergriffen.

Heyyy! Hey duuu! Willst du ein i kaufen?


Im Foyer tummeln sich bereits die Besucher und ich nutze die letzten Minuten um mich ein wenig im Cafe aus zu ruhen. Während ich so in der hinteren Ecke des Cafés sitze, kann ich die Menschen unauffällig beobachten. Es ist tatsächlich ein kunterbunter Strauß aus allerlei Farben und Formen, die die Leute an sich tragen. Vom extravaganten Glitzerkleid zum lässigen Jeans Look bis zur Fahrradhose. Moment mal… Fahrradhose?! Ja, ich habe richtig gesehen. Vor dem Eingang zum Saal steht eine blonde Frau. Sie sieht aus als wäre sie gerade die Tour de France gefahren. Ihr knallgelbes Shirt trägt die gleiche Farbe wie der Fahrradhelm unter ihrem Arm. Und es stört niemanden! Das ist London! Wieder ein Grund mehr diese Stadt zu lieben. Als ich den Saal betrete bleibe ich erst einmal ehrfürchtig stehen. Genau diese Bühne habe ich bereits bei diversen Aufführungen im Kino bewundern dürfen. Kein Bühnenbild, gedämpftes Licht, Nebel wabert über dem Publikum. 



Die Bühne! Übrigens auch der Ort
an dem Benedict Cumberbatch das Stück "Frankenstein" aufgeführt hat. 


Mein Platz ist in der dritten Reihe, allerdings leicht erhöht, so dass ich genau auf Augenhöhe der Schauspieler sein werde. Und dann geht es los. Eine Putzfrau, die vorher teilnahmslos in der Ecke stand (ich dachte sie gehört zum Reinigungspersonal) erhebt das Wort. Ab dann wird das Publikum in eine laute, grelle Welt aus Musik, Neonfarben und Lichteffekten gerissen. Es ist als wäre ich selber in einem LSD Trip gelandet, dennoch ist es nur der Drogenrausch des Jedermann auf der Bühne… aber, bin ich nicht eigentlich auch Jedermann? Der Hauptdarsteller Chiwej Ewje… Ewjewej chiw… ew… (Moment ich muss mal eben googeln)…  Chiwetel Ejiofor, bekannt aus dem Oskar prämierten Film „12 years a Slave“ spielt sich die Seele aus dem Leib. Aber nicht nur die, sondern auch jede einzelne Wasserreserve. Meine Güte, ich wusste nicht, dass ein Mensch so sehr schwitzen kann. Immer wieder ertappe ich mich dabei nach der unsichtbaren Gießkanne zu suchen, die diese Wassermassen über seinem Kopf ausschüttet. Die Leute in der ersten Reihe bekommen das besondere Vergnügen mit den Körperflüssigkeiten eines Hollywoodstars in Berührung zu bekommen. Ich gebe zu, auf diese Ehre verzichte ich dann doch ganz gerne. Chiwetel ist mit Leib und Seele dabei, wenn auch etwas hyperaktiv, denn ab und zu würde ich gerne mal durchatmen können. Wer herausragend sein Können unter Beweis stellt sind die Beleuchter und Bühnenbildner, die einen packen und in eine Welt reißen, die mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf geht. Da entstehen aus dem Nichts riesengroße Müllmonster a la Jim Henson, da regnet es plötzlich von der Decke, da drischt ein künstlicher Sturm mit so brachialer Gewalt durch den Zuschauerraum, dass selbst drei Wetter Taft meine Frisur nicht mehr halten kann.  Und mittendrin der Tod, der mit dem Publikum interagiert. Nicht mit Worten, nur mit Blicken. Er trifft auch mich und es ist als würde ich eine Stimme in mir hören: „Vielleicht bist du die nächste. Was hast du bisher aus deinem Leben gemacht? Denk mal drüber nach.“  Ein Gefühl, dass mich auch nach der Vorstellung nicht los lässt. Die Menschen ergießen sich aus dem Hauptausgang auf die Promenade vor der Themse. Es ist bereits dunkel geworden und vom Gewässer bläst frischer Wind zu uns hinauf. Langsam zieht sich die schwüle Luft des Tages zurück. Obwohl es kurz vor Mitternacht ist, kommen mir jede Menge Jogger entgegen. Nachtjoggen scheint hier sehr verbreitet zu sein, vermutlich weil man um diese Uhrzeit endlich atmen kann. Ich bin hundemüde und trotzdem aufgedreht. Meine Füße tragen mich weiter, aber nicht zur Bushaltestelle sondern an der Promenade entlang. Die Stadt schläft nicht, ich habe das Gefühl sie ist gerade erst richtig wach geworden. Menschen tummeln sich am Ufer, es wird gesungen, getanzt, gelebt. Ich werde eingesponnen von den Fäden der grellen Neonlichter, getragen von den Klängen der Musik, mitgerissen von der Fröhlichkeit der Menschen. Ich schwimme im Strom neben der Themse und er spült mich an einen Ort, den ich hier gar nicht erwartet hätte. Plötzlich stehe ich in Mitten einer Kulisse aus meiner Lieblingsserie Sherlock. Eine Art Unterführung, die von oben bis unten mit Graffiti besprüht ist. Aber es wirkt nicht dreckig oder ungemütlich sondern eher wie Kunst die ich mit offenem Mund betrachte. Zwischen den Betonpfeilern dreht gerade eine kleine Filmcrew eine Skaterszene. Da ich nicht als „die seltsame Frau“  im Hintergrund eines Youtube Videos landen möchte, gehe ich weiter und verzichte darauf vernünftige Fotos zu machen. Das werde ich definitiv nachholen wenn ich wieder her komme. Irgendwann. 

Ja, hier wurde Sherlock gedreht. Nein es roch nicht nach Urin!
Die Kölner sind jetzt neidisch, gell? ;-) 


Die Brise frischt auf, ich merke wie meine Knochen anfangen zu Schmerzen. Schweren Herzens muss ich mich trennen. Zurück im Hotel schaffe ich sogar das Fenster zu öffnen, auch ohne den Griff und ohne die Scheibe ein zu schlagen. Die Hauptverkehrsstraße nehme ich nur noch in weiter Ferne wahr als ich in einen tiefen Schlaf falle. Lebe ich mein Leben richtig? Ich weiß es nicht. In diesem Moment fühlt es sich jedenfalls verdammt richtig an.   

Stay Professional!


Frozen ist übrigens die Weiterführung von Zerrrroo!

Und ihr dachtet ICH wäre bekloppt?
Das hier gab's im Museumsshop zu kaufen... JA, das sind Malbücher!
NEIN, ich habe sie nicht gekauft!
P.S. Ideen für potentielle Weihnachtsgeschenke an mich
sind hiermit offiziell gegeben.... *hust*



Dienstag, 1. September 2015

Willkommen in London! Oder: Warum Busfahrer die dicksten Eier haben.

10.08.2015 Teil 3
Auf den letzten Kilometern meiner Reise im Eurostar, schaffe ich es endlich meinen Mitreisenden auch mal gehörig auf den Zeiger zu gehen. Schuld daran ist mein Nerd T-Shirt, das den Spruch „Keep Calm and say NI!“ trägt. Aufmerksame Monty Python Fans werden sofort wissen worum es geht. Allen anderen sei gesagt: Es ist eine Referenz auf den Film „Die Ritter der Kokosnuss“. Ein Meisterwerk aus Großbritannien und einer der wenigen, erlesenen Streifen, die ich komplett mit zitieren kann. … Auf  Deutsch und Englisch…!
Nun, als ich aufstehe und mich schon mal auf den Weg zum Gepäckabteil mache erblickt ein junger Asiate jenen Aufdruck. Anhand seines Atari T-Shirts, der schwarz umrandeten Brille und dem halben Apple Store, den er um sich verteilt hat, erkenne ich sofort einen Mitstreiter. Wir begrüßen uns mit einem spitzen „NI!“ und setzen dann die Unterhaltung fort, indem wir uns ein Filmzitat nach dem anderen an den Kopf werfen. Hach, es ist schön auf Gleichgesinnte zu treffen. Treffen würden uns die Mitreisenden sicherlich auch gerne mal, allerdings mit dem Geschoss einer Pump Gun. Aber, das gönne ich mir jetzt, schließlich habe ich in den letzten 5 Stunden nicht einen einzigen Laut von mir gegeben. Zehn Minuten später kennt auch der Rest des Waggons den halben Film. Dann ist die Zotenschlacht überstanden und wir rollen in London St.Pancras ein. Es klingt verrückt, aber dieser Bahnhof ist unter anderem ein Grund dafür, dass ich eine Zugfahrt dem Flieger vorziehe. Man kommt wirklich mitten im Geschehen an und wird von einem der für mich schönsten Bahnhöfe begrüßt. Nachdem ich aus dem Zug gestiegen bin bleibe ich erst einmal stehen um die Atmosphäre auf zu saugen. Mein Blick geht Richtung Ausgang, dort wo die historische Bahnhofsuhr hängt. Unter ihr die riesengroße Statue zweier Liebenden. London heißt mich willkommen. Doch die Ruhe dauert nicht lange an, denn die goldenen Zeiger halten mir vor Augen, dass ich in nur 2 Stunden bereits im National Theater sitzen muss. 
Als ich nach draußen stürme, habe ich das Gefühl jemand hat mich aus dem fahrenden Wagen auf eine zwanzig-spurige Autobahn geworfen. Menschen, Menschen, Menschen. Vor mir, hinter mir, neben mir. Rush hour. In meinem Hinterkopf höre ich das ständige Ticken eines Sekundenzeigers.Wenn man nicht rechtzeitig im Theatersaal sitzt, wird man nach Beginn der Vorstellung nicht mehr hinein gelassen. Eine durchaus gängige Praktik nicht nur in London, damit die anderen Zuschauer nicht gestört werden. Zum Glück bin ich gut vorbereitet, kenne die Gegend und arbeite mich zügig durch eine Reihe von Notwendigkeiten. Punkt 1: Geld abheben. Punkt 2: Oyster Card aufladen (das ist die Fahrkarte für Bus und U-Bahn). Punkt 3: Den richtigen Bus erwischen. Tatsächlich klappt alles problemlos und nur kurze Zeit später sitze ich in der Linie 59 Richtung Waterloo.  
Noch, denn bezogen auf das „Sitzen“ habe ich den heißen Stuhl gewählt. Der Bus ist schon gut gefüllt und mit meinem pinken Koffer bleibt mir nur noch der „priority seat“. Das ist ein Platz, den man frei machen muss, sollte jemand mit Kinderwagen den Bus betreten. Ist der Platz mit einem Kinderwagen belegt, es steigt aber eine Schwangere ein, dann muss der Platz wiederum für diese Person frei gemacht werden. Und wenn jemand im Rollstuhl dazu steigt, dann sticht dieser wiederum die Schwangere. All dies zeigt mir die gelbe Hinweistafel direkt neben meinem Sitz. Die Litanei liest sich wie ein Comic. Zwei Stationen später wird eine ältere Dame im Rollstuhl eingeladen. Ich bin verwirrt… hätten nicht zuvor ein Kinderwagen und eine Schwangere auftauchen müssen? Darf ich den Platz  unter diesen regelwidrigen Umständen überhaupt schon abgeben? 
Natürlich mache ich sofort Platz und hieve meinen Koffer auf den letzten freien Stellplatz im Bus. Im Gegensatz zum Eurostar, wo die über motivierte Klimaanlage Eiswürfel auf die Passagiere abgeworfen hat, wird im Bus gerade ein subtropisches Habitat gegründet. Ich merke wie Schweißperlen, zäh meinen Rücken herunter laufen. Sie begraben damit sämtliche Hoffnung, dass ich mich vor dem Theater nicht mehr umziehen muss. Die Uhr tickt erbarmungslos weiter.Wie immer stapeln sich massenhaft Autos auf den Straßen und die Großstadtluft macht einem Landei wie mir sofort zu schaffen. So geht es mir aber nicht nur in London, wo mir die Abgase zum Glück nur ein leichtes Kratzen im Hals abverlangen. In Paris dachte ich mal eine Aschenbecher Entsorgungsanlage wäre explodiert und in Bangkok fühlte ich mich wie ein Goldfisch, den man aus seinem Aquarium auf  heißen Asphalt gekippt hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Zurück nach London. 
So verstopft wie die Straßen auch sind, ich habe bisher noch nicht einmal mit dem Bus länger als eine Minute irgendwo gestanden. Und das gilt auch für die Haltestellen! Als Neuankömmling wundert man sich warum die Fahrgäste beim Busfahrer immer demütigste Dankesreden schwingen, während sie ihre Fahrkarte über den Scanner ziehen. Wenn man die Situation aber mal aus der Ferne beobachtet, versteht man warum. Der Verkehr in London ist ein einziges, filigranes Konstrukt. Jeder Ausreißer hat Auswirkungen, die das komplette System lahmlegen können. Jeder Bus, der auch nur ein paar Sekunden zu lange in der Haltestelle steht, verursacht hinter sich ein komplettes Rückstau Chaos. Und damit das nicht passiert, sind Busfahrer in London die emotionslosesten Maschinen, die ich je im Straßenverkehr kennen lernen durfte. Ok, Mitarbeiter der Deutschen Bahn können das ebenfalls sehr gut, aber der Unterschied ist: Die machen das weil sie keinen Bock auf ihren Job haben. Der Londoner Busfahrer hingegen hat eine Ausbildung auf dem Chuck Norris College für Kraftfahrzeugführer genossen und gibt alles um die Großstadt am Leben zu halten. Zu Hause ist er bestimmt ein netter Kerl, aber hier, auf dem harten Asphalt des Lebens hat er sein Lächeln in der Umkleidekabine gelassen. Als ein älteres Ehepaar einsteigt und tatsächlich den Fehler begeht eine Fahrkarte im Bus kaufen zu wollen, zeigt der Fahrer was er so alles auf der Schule gelernt hat. Die Rentnerin, offensichtlich eine Britin, aber definitiv keine Einwohnerin Londons, fragt nach der Endhaltestelle. Der Fahrer bestätigt das mit einem kurzen Nicken und schließt bereits die Tür. Als die Dame das Geld zückt, geht diese aber schneller wieder auf als die Hydraulik zischen kann. Mit wedelnder Hand und keinerlei weiteren Worte, komplimentiert der Herr des Busses die beiden sichtlich überrumpelten Rentner wieder hinaus. Diese kurze Verzögerung sieht der Mann im Anzug auf der gegenüberliegenden Straße als seine Chance an. Er sprintet los, sein Schlips weht im Wind, seine Haare werden zerzaust und seine Augen weiten sich, voller Hoffnung den Bus doch noch zu erwischen. Er vergrößert die Schritte, zückt dabei seine Karte, nimmt Anlauf um die Einstiegsstufe noch zu schaffen… und knallt mit dem Gesicht, schmatzend gegen die sich gnadenlos schließende Tür. Der Busfahrer sieht den Mann genau, es interessiert ihn aber nicht. Und jetzt kommt das wirklich absurde: In Deutschland würde der zurückgelassene Passagier sofort sein Handy zücken, die Polizei, das Militär und die Staatsanwaltschaft einschalten und als Schadensersatz das komplette Haus des Fahrers pfänden. Nicht so in London. Als wir langsam aus der Haltestelle rollen, sehe ich wie der Mann draußen entschuldigend die Hände hebt und sich ohne jede Gegenwehr, brav in die Schlange für den nächsten Bus stellt. Abgefahren… im wahrsten Sinne des Wortes. Und doch irgendwie verständlich, denn ein Blick hinter mich zeigt mir, dass selbst diese winzige Verzögerung bereits zu einer riesigen Anstauung von PKW und Bussen geführt hat. Dieser konsequenten Handhabe habe ich dann auch zu verdanken, dass ich es tatsächlich rechtzeitig ins Hotel schaffe. Ich mache mich kurz frisch, ziehe mich um und fahre dann mit dem nächsten Bus zum National Theater. „Everyman“ heißt das Stück und darüber berichte ich dann in meinem nächsten Beitrag.

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London welcomes you!