Sonntag, 22. März 2020

Corona Tag X+11: Wir hatten ja… alles

22.03.2020

Liebes Tagebuch, 

ich bin ein Kind der 80er. 
Damals war es (zumindest in meinen Kreisen) noch nicht so verbreitet, mehrmals im Jahr in den Urlaub zu fliegen. 
Wenn der Tobias aus der 2. Klasse nach den Sommerferien davon berichtete, dass er mit seinen Eltern auf Korfu war, dann klang das für uns andere Kinder so, als hätte er gerade einen Abenteuerurlaub im Kongo hinter sich gebracht. 
Ich hingegen kann aus meiner Kindheit von sage und schreibe zwei Urlauben berichten. Einmal ging es mit Vattern an den Strand von Sankt Peter Ording und das zweite Mal ins AUSLAND nach Österreich zum Wandern! DAS WAR’S! 
Mehr war damals einfach nicht drin.

Umso krasser fiel dann aber mein Nachholbedarf aus. 
Ich habe ordentlich malocht und zusätzlich zum Hauptjob immer noch abends gekellnert. 
Die Freizeit schrumpfte zwar, aber dafür füllte sich das Portemonnaie und mit ihm das Sammelglas voller Wünsche und Träume. 
Ja, man kann sagen, dass ich in meinen 20ern und 30ern so richtig auf die Kacke gehauen habe. Ich bin viel gereist, habe jede Menge Konzerte besucht, bin ausgegangen, habe mir jede Menge Klimbim gekauft, einfach weil ich es konnte. Und doch war da immer der Drang nach mehr. 
Hach das Shopping in London war so toll, das muss ich nochmal machen. Hach das T-Shirt ist so geil, da bestell ich mir doch noch drei weitere Varianten von. Von der Blue Ray hier aber bitte die super limited Schnickschnack Sonderedition in Metalloptik…

Und dann kam die Wende. 
Nach langer Zeit und vielen Versuchen wurde ich mit Ende 30 endlich schwanger. Und natürlich war ich vorher eine von diesen naiven Kinderlosen, die steif und fest behaupteten: „Also, wenn der Nachwuchs da ist, dann lebe ich definitiv so weiter! Das geht auch alles mit Kind!“

Wartet… ich muss mal kurz pausieren um laut zu lachen…….Hahahahhahhhahhhahhhahhaaaaaahahaahahahaaaaa!

Natürlich kam es so, wie es alle Eltern wissend prophezeit hatten. Es blieb nichts wie es mal war. 
Von heute auf morgen waren ich und meine Wünsche und Pläne in den Hintergrund gerückt. 
Insbesondere als stillende Mutter, dessen Sohnemann partout keine Lust hat die mühsam abgepumpte Milch aus der Flasche zu trinken, hat man maximal 2 Stunden Zeit um irgendetwas alleine zu unternehmen oder für sich zu tun. 
Im ersten halben Jahr nutzt man diese 2 Stunden meist zum Schlafen oder für Körperpflege. Mehr ist oft nicht drin. 
Und soll ich euch was sagen: Die sonst so taffe Frau Sommer war plötzlich gar nicht mehr so cool. Sie merkte plötzlich, dass das Leben was sie vorher geführt hatte, zumindest für die nächsten fünfzehn Jahre, nie wieder so sein würde wie vorher. 
Mal eben spontan mit Freunden nach Berlin fahren? Pustekuchen! Sowohl zeitlich als auch finanziell absolut nicht mehr möglich. 
Das hat mich in der ersten Zeit fast wahnsinnig gemacht. 

Natürlich, Mutter zu sein ist ein riesiges Geschenk, aber es ist mit so unfassbar vielen Entbehrungen gekoppelt, darauf muss man halt auch erst mal klar kommen. 
Aber mit der Zeit verschwand diese Angst. Das Gefühl man würde irgendetwas im Leben verpassen, wenn man nicht mehr alles tun und lassen kann auf das man gerade Bock hat, legte sich immer mehr. 
Und auf einmal wich die Unzufriedenheit einer angenehmen, inneren Ruhe. Plötzlich fing ich an auszumisten, dünnte Kleiderschrank und Schnick-Schnack Sammlungen aus und es tat gut. All diesen Krempel brauchte ich nicht mehr um glücklich zu sein. Je mehr von dem Zeug verschwand, desto mehr Platz hatte ich zum Atmen.

Vielleicht bin ich deswegen gerade so entspannt, was die Entbehrungen der aktuellen Tage angeht. Zum Beispiel was die Haare angeht: Ich schaffe es momentan sowieso nur noch alle 8 Monate zum Friseur und auch jetzt hängt mein Haaransatz schon wieder fast an den Ohren. Aber das ist nicht wichtig!

Ich denke in diesen Tagen werden wir alle merken was wirklich wichtig ist. 
Dass die tatsächliche Entbehrung nicht der ausgefallene Sommerurlaub ist, sondern der Kontakt zu unseren Liebsten, zu unseren Freunden, zu unseren Eltern, zu Omas und Opas. 
Ich fürchte dieses Tal werden wir jetzt alle gemeinsam durchschreiten.

Irgendwann, weit in der Zukunft, werden wir dann unseren Enkeln oder dem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft von der Zeit vor der großen Corona Krise berichten. 
Nur im Gegensatz zu unseren Großeltern werden wir sagen: „Wir hatten ja alles!“  
...Alles außer Bescheidenheit und den Blick für das Wesentliche.

In diesem Sinne: Bleibt bescheiden und bleibt zu Hause.

Gesperrter Spielplatz in unserer Siedlung

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