Donnerstag, 8. Oktober 2015

Achtung Spoiler! Oder: Ein Hamlet ist keine Eierspeise!

11.08.2015 Teil 3
Ich nehme es gleich vorweg:
In diesem Beitrag wird gespoilert! 
Nein, das hat nichts mit einer hässlichen Plastiktheke, die man hinten ans Auto schraubt zu tun. Es geht darum, dass vielleicht einige von euch das Glück haben in den nächsten Wochen noch die Hamlet Aufführung in London live mit zu erleben, ODER das Theaterstück im Kino eures Vertrauens am 15.10.2015 per Liveschaltung genießen zu können. 
Wer sich aber dennoch traut weiter zu lesen dem sei gesagt: Es gibt Dinge, die kann man eigentlich gar nicht spoilern. Denn sie sind allgemein bekannt. 
Ich rede hier von Kinogängern, die im Film Titanic sitzen und am Ende entsetzt sagen: „Wie? Das Schiff ist untergegangen?“
Das ist genauso als ob man Hänsel und Gretel lesen würde und überrascht feststellt: „Ach was! Die Hex ist tot?“
Ich kann natürlich verstehen, dass man in Zeiten von Game of Thrones oder The Walking Dead etwas panisch ist. Die Autoren sind nämlich gemein und bringen auch gerne mal einen der Hauptcharaktere um, ohne dass man etwas davon ahnt. Bei den klassischen Werken von Shakespeare ist das anders. Der killt natürlich auch gerne Leute, aber wie bei der Titanic weiß man meist wie es ausgeht, sofern man in der Schule einen sadistisch veranlagten Englischlehrer hatte. 
Wer sich aber dennoch komplett überraschen lassen möchte, dem gebe ich hier trotzdem einen Rat: Bevor ihr euch das Stück anseht, nehmt das Buch zur Hand und lest es! Mein  Englisch ist wahrlich nicht schlecht ist, aber selbst mir fällt es schwer der shakespeareschen Sprache zu folgen. 
Mit dieser Vorahnung hatte ich mich zuvor durch die Seiten einer grottenschlechten Hamlet Übersetzung gequält. Es macht keinen Spaß das zu lesen, da bin ich ehrlich, aber es hilft einem am Ende ungemein, das Stück richtig verstehen und genießen zu können. 

Haltestelle "Barbican"

Ich mache mich also am frühen Abend auf den Weg zum Barbican Theater. Nach erneutem Gedränge in der U-Bahn blieb lediglich Zeit zum frisch machen und weiterreisen, das Nickerchen musste wieder einmal zurückgestellt werden. 
Und so sitze ich jetzt im Foyer dieses unfassbar riesigen Komplexes. 
Das Barbican ist ein gigantisches Kulturzentrum. Hier gibt es Kinos, Ausstellungsräume, Seminarräume, ein Gewächshaus auf dem Dach und natürlich das Theater. Ich bin fast zwei Stunden zu früh da. Das macht mir aber nichts, denn so kann ich noch ein wenig über die verschiedenen Etagen flanieren, den Museumsshop besuchen und eine Runde auf den gemütlichen Ledersitzen entspannen. 
Endlich Ruhe! 
Und wer hätte das gedacht, im Barbican ist es wirklich ruhig! 
Fast hätte ich Ohropax eingepackt, da die britische Presse doch bereits im Vorfeld mehrfach von kreischenden, Selfie machenden, pubertären Fans des Hauptdarstellers berichtete, die wie eine unkontrollierte Meute jeglichen Theaterbesuch zunichte macht. 
All dies stellt sich als kompletter Blödsinn heraus. 
Es stimmt natürlich, dass jede  Nacht Leute vor dem Barbican campieren um die begehrten, letzten Tageskarten für die Vorstellung zu ergattern. Dies ist in London allerdings nicht unüblich, ganz unabhängig von der Aufführung. Selbst jetzt sitzen noch jede Menge Leute vor dem Ticketschalter und hoffen auf Karten, die im letzten Moment zurückgegeben werden. 
Als ich an den Wartenden vorbei marschiere bin ich erst einmal verwirrt, doch ein Blick auf ein kleines Schild gibt mir Gewissheit. Ja, das hier ist tatsächlich die Warteschlange für Hamlet mit dem Frauenschwarm Benedict Cumberbatch. Ein weiteres Klischee wird sofort atomisiert. Hier campieren heute fast nur Männer! Wer hätte das gedacht?
Horden von kreischenden, hoch gewachsenen Fangirls mit starkem Bartwuchs belagern wie jeden Tag das Barbican!

Kurz vor der Vorstellung macht sich dann doch etwas Nervosität in mir breit. Wie wird das Stück wohl werden? Wird alles gut gehen? Die Premiere war erst letzte Woche, da passieren am Anfang immer mal wieder ein paar Fehler. 
Und vor allen Dingen: Wie viele Schlüpfer und BH’s werden im ersten Akt auf die Bühne geworfen? 
Werden wir Damen unsere hormongefluteten Körper kontrollieren können und ausnahmsweise mal nicht nackt durch den Saal rennen? Ich wette da sitzen tatsächlich jeden Abend Redakteure von irgendwelchen Schmierblättchen im Auditorium und warten nur darauf, dass irgendetwas passiert, was sie anschließend bis zur Unkenntlichkeit verwursten können. 
„Hysterische Zuschauerin weint während des ganzen Stücks!“, lauten dann die Schlagzeilen, dabei hatte die Ärmste nur eine Erkältung. 
Eines steht fest, ausziehen wird sich heute Abend niemand, denn die Klimaanlage des Barbican gibt ihr Bestes. Ich warte nur noch darauf, dass Schnee von der Decke rieselt. 
Ich habe einen recht guten Platz, genau in der Mitte des riesigen Saales ergattert. Als das Licht gedimmt wird verstummt das Stimmengewirr. 
Der Vorhang öffnet sich und vor uns erscheint ein kleines Zimmer. Das Bühnenbild ist minimalistisch. Eine geschlossene Tür, eine antike Truhe mit Erinnerungsstücken und daneben Hamlet, bzw. Mr. Cumberbatch persönlich. Er steht einsam im Rampenlicht, durchforstet die Kiste und sinniert mit einer Stimme, die Titan zum Schmelzen bringt: „To be or not to be?“ („Sein oder nicht sein?“). (Übrigens ein Experiment der Regisseurin, diese berühmten Worte bereits an den Anfang des Stückes zu setzen. Wie sich nach den ersten Aufführungen aber herausstellte, kam dieser Wechsel beim Publikum nicht so gut an, weswegen man den Part nach ein paar Vorführungen wieder an seinen ursprünglichen Platz, nämlich ins letzte Drittel, versetzte.)
Ich lehne mich zurück und komme aus dem Grinsen nicht mehr heraus. Ich bin einfach nur dankbar dafür, solch einen Schauspieler nur wenige Meter vor mir, live performen sehen zu dürfen. Im Saal kann man eine Stecknadel fallen hören, alle hängen gebannt an den Lippen des Hauptdarstellers. Dass mich nur wenige Minuten später eine ganz andere Sache aus den Schuhen hauen wird, ahne ich jetzt noch nicht. 
Mit einem gruseligen Lichteffekt kommt Hamlets Vertrauter Horatio auf die Bühne, es folgt ein kurzer Dialog. Und dann Szenenwechsel. 
Das ist der Moment in dem mir die Kinnlade herunterfällt. Es stellt sich heraus, dass die Bühne, die wir bis dato gesehen haben nur ein Bruchteil von dem ist, was den Zuschauer erwartet. Die Wand des spartanischen Zimmers verschwindet in der Bühnendecke und was dahinter zum Vorschein kommt ist so gigantisch, dass ich sofort eine Gänsehaut bekomme. 
Kennt ihr den Moment, wenn sich die Leinwand im Kino vergrößert, kurz bevor der Hauptfilm anfängt? 
Dann wenn das Kino mit beeindruckendem Surround Sound prahlt mit was für einer genialen Technik es aufwarten kann? 
Der Moment wenn man das Gefühl hat die Leinwand legt sich einmal über das Gesicht bis hinter die Ohren? 
Dieses Gefühl mit 100 multipliziert, ja, das kommt ungefähr hin. Die Halle eines riesigen Schlosses taucht auf, mit Kristall-Kronleuchtern, so groß wie mein Büro. Die Schauspieler versammeln sich um eine üppige Tafel und wirken in der Kulisse plötzlich wie winzige Püppchen. Die Bühne scheint einfach unendlich. Sie ist nicht nur breit, sondern geht auch noch so weit in die Tiefe, dass man im Hintergrund noch weitere Zimmer sieht, und selbst dahinter noch eine Ebene. 
Über die Treppe zur Linken kommen weitere Darsteller ins Bild, gekleidet in detailverliebte Roben. Es ist eine Mischung aus den zwanziger Jahren und etwas, dass einem Tim Burton Film entsprungen sein könnte. Die Wände sind in schmutzigem Petrol gestrichen und drücken die Stimmung und das Licht. 
Spätestens jetzt zeigt uns das Bühnenbild in eindeutiger Art und Weise: „Something is rotten in the state of Denmark“ („Etwas ist falsch/faul im Staate Dänemark“).

Das Stück beginnt und für die nun folgenden 3 ½ Stunden werden wir Zeugen einer Inszenierung, die zeigt, dass hier die besten Theaterproduzenten der Welt am Werk sind. Natürlich steht an der Spitze das Aushängeschild Benedict Cumberbatch, ein Schauspieler, dem die Perfektion in die Wiege gelegt worden sein muss. Er sprintet und tanzt zugleich über die Bühne, jeder einzelne Schritt sitzt, jeder Satz perlt aus seinem Mund wie eine perfekt komponierte Melodie. Würde ich jedes Detail hier wiedergeben, ich müsste einen Roman verfassen. 
Aber ein Team stellt selbst diesen Schauspieler, im wahrsten Sinne des Wortes, in den Schatten. Damit meine ich die Bühnenbildner, Soundtechniker und Beleuchter. Sie nehmen das Publikum, wirbeln es in eine komplett andere Welt und lassen es im Strudel der Bilder, die sie live vor ihm zeichnen, ertrinken. Vielleicht das einzige, kleine Manko, denn dadurch geht manch schauspielerische Leistung leider etwas unter. 
Einige Szenen hingegen setzen die Darsteller wiederum genau ins richtige Licht. Das passiert immer dann, wenn einer der für Shakespeare typischen Monologe an die Reihe kommt. Normalerweise würde die Figur in diesem Moment alleine auf der Bühne stehen. Bei solch einer riesigen Szenerie ist es aber ein Ding der Unmöglichkeit erst mal wieder alle anderen aus dem „Bild“ zu schaffen. 
Hier bedient man sich eines sehr wirkungsvollen Tricks: Während das Spotlight auf den Monolog Haltenden zielt, wird der restliche Raum in schummriges Zwielicht versetzt. Die übrigen Darsteller verfallen auf einmal in sehr langsame Bewegungen und so sieht es aus als würde alles in Zeitlupe laufen, bis auf die Person im Licht. Es ist als ob man eine dieser computergenerierten Szenen aus Matrix anschaut. 
Kaum ist man über diesen grandiosen Effekt hinweg gekommen, erschüttern Konfettikanonen die Zuschauer. Schwarzes Papier wird wie ein Sturm über die Bühne geblasen und entlassen das Publikum in eine kurze Pause. 
Meines Erachtens ist dieses Intervall eigentlich viel zu kurz um die komplette Bühne in ein Trümmerfeld voller Schutt zu verwandeln. Die Bühnenbildner müssen Zauberer sein, oder haben uns heimlich für ein paar Stunden narkotisiert, da bin ich mir eigentlich sicher, denn wo kommen auf einmal diese Berge von Geröll her, die sich nach der Pause quer über die Bühne ergießen? 

Doch es ist nicht nur alles Drama, denn dieser Hamlet ist gleichzeitig sehr humorvoll. Vor allen Dingen dann, wenn der dänische Prinz vorgaukelt, verrückt geworden zu sein. Und auch da enttäuscht der Hauptdarsteller nicht. Cumberbatch beherrscht sowohl Drama als auch Komödie und das alles in einem Stück. 


Wer neugierig ist,
wie das Ganze aussieht, 
der kann sich hier den offiziellen Trailer 
für die kommende Live Übertragung ansehen:



Nach dreieinhalb Stunden fällt der Vorhang und das Publikum beschenkt das Ensemble mit stehenden Ovationen. Die Darsteller kommen noch einmal nach vorne und verneigen sich. Und auch jetzt fliegen keine BH’s oder Schlüpfer. 
Doch! Eine Sache gelangt tatsächlich auf die Bühne. Ein junges Mädchen steht auf und überreicht dem Hauptdarsteller einen hübschen, kleinen Blumenstrauß. Cumberbatch bedankt sich, indem er der Schenkenden einen Luftkuss zuwirft, bleibt aber ganz Gentleman und reicht die Blumen an eine der weiblichen Darstellerinnen weiter. Dem Mädchen macht das nichts aus. Sie schwebt nach dieser Aktion bereits auf Wolke 300. 
Und so geht ein weiterer Theaterabend zu Ende… 
... denke ich, denn eigentlich hieß es ja immer, dass der Herr Cumberbatch nicht zur Stage Door kommen und nach dem Stück keine Autogramme geben wird. Eigentlich…, aber dazu mehr im nächsten Eintrag.


Stay Professional


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen