Montag, 17. August 2015

Ritt durch die Hölle, oder warum man niemals 1. Klasse buchen sollte




10.08.2015, der Tag der Tage auf den ich schon das ganze Jahr hin gefiebert habe. Ja, es geht mal wieder nach London. Also Rentner machen ja ganz gerne jedes Jahr im gleichen Club ihren von A-Z einstudierten Pauschalurlaub.  Da weiß man was man hat, kennt das Essen und vor allen Dingen Murat, den Kellner des Vertrauens, der kümmert sich immer besonders nett.

Bei mir verhält es sich da ja irgendwie auch ein bisschen so. Einmal im Jahr London wär schon ganz nett, wenn es Finanzen und Zeit zulassen. Da weiß ich worauf ich mich einlasse.
Das war es aber dann auch schon mit der Ähnlichkeit zum Club Las Sombreros, oder wie sie alle heißen. In London läuft für mich nie irgendwas nach Plan und jedes Mal werde ich von Überraschungen überrumpelt. Bisher waren sie aber allesamt positiv, weswegen ich einfach nicht genug bekomme von dieser Stadt.
Somit geht es also auch an besagtem Montag wieder mal gen britisches Eiland.
Da Fliegen nicht so unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört (ja, im Notfall geht das auch, aber ich bleibe irgendwie doch lieber mit den Füßen auf dem Boden), lasse ich mich lieber per Zug unter Tonnen von Wasser, sprich der tobenden Nordsee, her transportieren. Ist bestimmt ungefährlicher… *hust*

Meine Reise startet am Kölner Hauptbahnhof. Ich war mutig und hatte in einem Anflug von Größenwahn genau während des Bahnstreiks Tickets bei der DB bestellt. Hätte in die Hose gehen können, aber mein Mut wurde belohnt mit Tickets zu Spottpreisen, da sich zu dieser Zeit niemand getraut hatte. Ich war sogar mal richtig dekadent und hab für nur 10 Euro mehr, erste Klasse reserviert. (Man merkt, die Bahn hatte es zu der Zeit richtig nötig.)
Mit einem Hochgefühl, wie es wahrscheinlich nur Carmen Geiß erlebt, stehe ich am Bahnsteig und warte auf mein Luxustransportmittel. Zuverlässig wie immer trudelt der ICE mit 20 Minuten Verspätung auf Gleis 5 ein.
Als ich in das Abteil einsteigen will stelle ich ernüchtert fest, dass man mir keinen roten Teppich ausrollt. Es ist noch nicht einmal jemand da, der mir das Gepäck schleppt. Dabei hatte ich doch extra ein paar Pflastersteine eingepackt um zu sehen wie viel der Herr Schaffner so hochgedrückt bekommt. Mist.
Zwei ausgerenkte Rückenwirbel später sitze ich dann in meinem Abteil. Ich habe tatsächlich einen Einzelsitz! Wahnsinn! Einen EINZELSITZ!
Ich schwebe vor Freude über den Wolken, stürze aber sofort unsanft ab als ich meine Füße ausstrecke. Ich bin zu klein! Zu klein für diesen verdammten Sitz. Meine Füße erreichen nur knapp die Fußstütze des Vorderplatzes. Ein Traum für jeden 2 Meter Mann. Genau das Gegenteil für eine Person von meiner Statur. Die Füße baumeln in der Luft und innerhalb kürzester Zeit werden mir die Adern von der unbarmherzigen Sitzkante abgedrückt. Na wunderbar. Zwei Stunden Fahrt mit eingeschlafenen Beinen in Dauerschleife.
So langsam wird mir bewusst, dass mir die erste Klasse mit voller Wucht zeigt, dass sie mich nicht haben möchte. Ich bin ein Fremdkörper im Magen des Oberklasse Walfischs und er versucht mich bereits jetzt wieder heraus zu würgen.
Als der Zug anfährt knallt etwas hinter mir. Mein Koffer ist aus dem Gepäckfach gerutscht. Ich versuche es zu ignorieren und tue einfach so als wäre es nicht meiner. Dann bleibt er halt da liegen. Dummerweise reisen mit mir fast ausschließlich Geschäftsleute. Ob es wohl sein könnte, dass einer von denen mit einem riesigen, pinken Koffer mit lustigem, grün getupften Kofferband reist?
Niemand scheint die umgefallene Spielzeugkiste zu stören, also lehne ich mich zurück und beschließe die Fahrt zu genießen.
Da habe ich aber nicht die Rechnung mit meinen Mitreisenden gemacht.
Während es bei meinen bisherigen Fahrten im Holzklassewaggon maximal eine Lärmbelästigung durch übersteuerte Kopfhörer, die Scooter durch das Hirn ihres Trägers blasen kam, ziehen die Geschäftsleute wie auf Kommando ihre Waffen. Sie sind allesamt sehr gut ausgebildete Scharfschützen und ihre Geschütze heißen I-Phone, Samsung und Blackberry.
Sofort bekomme ich die Betriebsgeheimnisse von mindestens 30 Firmen auf einmal mit. Dummerweise kann ich sie im Stimmengewirr nicht brauchbar verwenden. Den Einzigen, den ich verstehe ist der Mann direkt hinter mir. Doch das Gespräch ist wie ein akustischer Unfall. Man will eigentlich weghören, kann aber nicht.
Ausnahmsweise scheint es sich hier wohl um ein privates Gespräch zu handeln. Das erkenne ich recht schnell daran, dass der Part am anderen Ende der Leitung anscheinend ein PC Legastheniker ist.
„Ok, dann schalte mal den PC an. Ja… ja genau… nein, du musst ein bisschen warten… ja… Mensch das dauert halt bis der hochgefahren ist. … … Ja, bis der an ist!“
Es folgt eine kurze Zeit des Schweigens.
Dann: „So, dann nimmst du jetzt mal die Maus und öffnest den Explorer. Unten links in der Startleiste. … Wie da ist keine Startleiste? Natürlich ist da eine Startleiste! Links unten! Du musst da mit der Maus hin gehen… !“
Vor meinen Augen bildet sich eine Szenerie mit einer vollkommen verzweifelten Hausfrau, die sich den ganzen Tag um die Kinder und nichts anderes kümmern muss. PC, das fremde Wesen.
„Unten! Nein unten links! Mit der Maus! … Was meinst du da ist kein Mauszeiger zu sehen? Aber du hast doch eben schon da drauf geklickt? Nein… Explorer! Nicht Word!“
Ich revidiere meine vorherige Annahme und wechsle von der verzweifelten Hausfrau auf die betagte Mutter des Telefonierenden.
„So, genau. Und jetzt klickst du mit der rechten Maustaste. Zwei Mal!… Nein … zwei Mal! Schneller. Nein, du musst schnell klicken! Zwei Mal! Jetzt bleib doch mal ruhig!“
Ok… ich glaube es ist doch eher die Großmutter.
„Und dann geh auf  Datei öffnen. Datei… öffnen. Datei… öffnen. Datei… öffnen…. Datei… öffnen…“  Er wiederholt das so stoisch, dass ich versucht bin ihn mal kräftig an zu stoßen damit die Platte endlich weiter laufen kann.
„Was?“ 
Ich schrecke hoch.
„Wie bist du denn jetzt da drauf gekommen? Nein! Nicht da drauf. Auf die Datei da drunter. Jetzt hör mir doch bitte einmal richtig zu.“
Nein, es kann nicht die Oma sein. Höchstwahrscheinlich ein 4 jähriges Kleinkind, aber die können ja mittlerweile schon besser mit so einem Zeug umgehen als unsereins.
Endlich hat der Mann ein Einsehen und begibt sich aus dem Abteil.
Ich atme auf und lehne mich zurück. Endlich mal ein paar Minuten Ruhe.
Doch diese Idylle wird umgehend gestört durch den Schaffner, der stolz ein exklusives Geschenk der Deutschen Bahn an die elitären Gäste der ersten Klasse verteilt.
Eine mini Tüte Gummibärchen. …
Das Verkehrsunternehmen hat keine Kosten und Mühen gescheut, doch ein Produkt der Marke mit den goldenen Buchstaben wäre wohl zu viel verlangt gewesen. Somit halte ich jetzt ein sicherlich ebenso schmackhaftes Alternativfabrikat aus Ostasien in den Händen.
Der Schaffner geht weiter durch die Reihen, die Gäste nehmen brav jeder nur ein Tütchen. Sofort schwappt eine knisternde Welle von hinten nach vorne durch den Zug. Sie beginnt hinter mir, dann stimme ich raschelnd mit ein und langsam wälzt sie sich dramatisch anschwellend nach vorne, bis der Schaffner das letzte Päckchen verteilt hat.
Ich bekomme die verdammte Tüte nicht auf! 5 winzig, kleine, künstlich, bunte Gummitierchen grinsen mich frech unter dem Papier an, aber so sehr ich mich auch bemühe, das Zellophan lässt sich nicht auseinander reißen. Sollbruchstelle, Pustekuchen.
Meinen Mitreisenden geht es ähnlich. Die Geräuschkulisse schwillt an und formiert sich zu einem wütenden Rascheltsunami. Der Kampf der Reisenden 300 um die spartanischen Gummitiere wird zur blutigen Schlacht. Meine Fingernägel bohren sich in das Fleisch meiner Finger, ich atme tief ein, ziehe ein letztes Mal und als das Papier mit einem Mal reißt, gibt es kein Halten mehr. Die Gummitiere entspringen ihrem durchsichtigen Gefängnis… .
Langsam wird es ruhiger im Abteil, die Schlacht ist beendet, Verletzte werden verarztet, Tote begraben, in dem Fall im Magen ihrer Schlächter.
Meine Opfer allerdings nicht. Die liegen unter dem Sitz meines Vordermannes.
Mir reicht es. Frustriert lehne ich mich zurück, schließe die Augen und versuche von England zu träumen.
„Genau! Ja, … und jetzt machst du das Fenster wieder zu. Das Fenster! Mit dem X oben in der Ecke. Oben! Oooooben!“
Oh Mann. Hoffentlich sitze ich bald im Eurostar. Aber ob es da besser wird? Dazu komme ich dann im nächsten Eintrag.


Stay Professional!


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